Meine lieben Landsleute

nach Paul Schuster

Rumänen, Ungarn, Deutsche, Juden, Armenier, Zigeuner, hie und da, vereinzelt, ein paar Slowaken, Griechen und Türken in einem jahrhundertealten Nebeneinander, das je nach den gegebenen Verhältnissen ein Miteinander, Gegeneinander, Füreinander war: Die Sprachen, die Typen, die Traditionen und Sitten, selbstverständlich auch die Vorurteile, Mißverständnisse, Spannungen,die der Philologe, der Ethnograph, der Historiker und der Soziologe in Siebenbürgen studieren kann, bilden einen lebendigen bunten Zusammenklang über dem dunklen Hintergrund einer bewegten, unruhigen Geschichte. Aber wenn Schillers Wort "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht" gültig ist, dann wird man über diese Landschaft, das Hochland zwischen dem Karpatenknie und den Westkarpaten, dem sogenannten "Siebenbürgischen Erzgebirge", ein gnädigeres, freundlicheres Urteil zu hören bekommen als über manches andere europäische Land: Viele Kriege sind über Siebenbürgen hinweg-, aber niemals ist einer von hier ausgegangen.

Oft vergleiche ich dies Land mit einem gigantischen Amphitheater.
Die Agierenden, die dem Chronisten unzählige Dramen und Tragödien lieferten und sich immer als Besitzer der Arena fühlten und aufführten, sind doch immer, auf kurz oder lang, von anderen Agierenden verdrängt worden, aber die Zuschauer sind die gleichen geblieben, durch ganze zwei Jahrtausende.Selbst der traditionsbewußteste Deutsche würde sich wundern, wenn er bei einem zufälligen Spaziergang durch ein abgelegenes fränkisches oder bayerisches Dorf eine Frau in altgermanischer Tracht mit einer schönen großen Bronzefibel auf der Brust bei einer alltäglichen Verrichtung anträfe, beispielsweise an der Waschmaschine oder vor dem Fernsehgerät - in Siebenbürgen hingegen wundert sich höchstens der Historiker oder der besonders gut informierte Tourist, aber niemals der Einheimische, wenn er einem Bauern begegnet, der heute, im Jahre 1969, die gleiche Mütze, Joppe und Hose trägt wie die alten Daker, die man auf den zeitgenössischen Reliefdarstellungen der Trajanssäule in Rom sieht. Diese Säule ist als ein Siegesmal zu Ehren des großen Flaviers errichtet worden - doch was bedeutet Sieg?

Das römische Imperium steht heute nur noch in den Geschichtsbüchern, und die Foren Roms sind respektable Trümmerhaufen; aber die Bauern und Bäuerinnen aus der Tara Oasului oder aus der Hatzeger Gegend weben auch heute noch das gleiche Tuch, tragen auch heute noch die gleiche Tracht wie ihre fernsten Vorfahren des 2. Jahrhunderts, als sie vor der Überlegenheit der kaiserlichen Legionen die Waffen strecken mußten. Etwas versimpelnd wird im Schulunterricht gelehrt, daß die Rumänen von den Dakern und Römern abstammen. Aber schon zur Zeit, als Trajan seine beiden Kriege um das siebenbürgische Gold führte, waren die Römer, zumindest die römischen Legionäre, nicht mehr gar so römisch; man weiß, wie zusammengewürfelt die Legionen während der Kaiserzeit waren, aus allen Provinzen rings um das Mittelmeer. Es wird wohl immer eine offene Frage bleiben, wieviel Erbgut aus wie vielen Bereichen der damaligen Welt die dakische Urbevölkerung in den rund hundertfünfzig Jahren römischer Besetzung assimiliert hat, aber es könnte sein, daß eine der bestechendsten Eigenschaften der Rumänen in dieser Assimilation ihre Wurzeln hat: ihre unerschöpfliche Phantasie.

Ganz bestimmt aber haben sie ihre Sprache, den größten Teil des Wortschatzes und die Sprachstruktur, der römischen Kolonisation zu danken. Pîine, das rumänische Wort für Brot, kommt vom lateinischen "panis", moarte und viata, rãzboi und pace, sînge und aur, also Tod und Leben, Krieg und Frieden, Blut und Gold, kommen aus dem lateinischen mors, vita, res bellum, pax, sanguis und aurum. Aus Dominus Deus ist dumnezeu geworden und aus homo om. Daß sich dies Volk, diese Sprache so zäh behauptet haben, ist ein kleines, vielleicht ein großes Wunder, wenn man bedenkt, daß Siebenbürgen bis in unser Jahrhundert hinein immer von Fremden beherrscht wurde. Hunnen, Gepiden, Awaren und Ungarn zerwühlten den Boden auf ihren Eroberungsritten und pflanzten ihre vergänglichen Zeichen in ihn, der Deutschritterorden versuchte im 13. Jahrhundert vergebens, hier Fuß zu fassen, der Mongolensturm verwüstete das Land, dann kamen lange Jahrhunderte, in denen gleich zwei Großmächte, Habsburg und das Osmanische Reich, dieses Gebiet beherrschten, die schwerste Zeit aber waren die fünf Jahrzehnte zwischen dem "Ausgleich" (1867) und dem Ende des Ersten Weltkriegs, als Siebenbürgen, nach fast zweihundertjähriger Autonomie, der ungarischen Krone unterstand und die nationale Eigenständigkeit der Siebenbürger Rumänen wie Sachsen durch die von Budapest betriebenen Magyari-sierungsmaßnahmen schwer bedroht war. Auf einer kurz vor Ausbruch des Krieges in Budapest gedruckten ethnographischen Karte des Königreichs Ungarn wird der Anteil der verschiedenen Nationalitäten an der Gesamtbevölkerung durch farbige Punkte anschaulich gemacht. Siebenbürgen sieht - zum Unterschied vom ziemlich monochromen Altungarn recht bunt aus.
Neben und zwischen den fettschwarzen Punktgruppen, die die ungarische Bevölkerung markieren, leuchten hellrote, grasgrüne, dunkelblaue, sattbraune Gruppen und Grüppchen: die Farben der Minderheiten. Deutsche, Slowaken, Armenier, Serben, Türken, alle sind mühelos zu erkennen. Und die Rumänen? Würde man die Karte aus einer Entfernung von drei, vier Schritten betrachten, so könnte man meinen, daß es da überhaupt keine Rumänen gäbe; bei genauerem Hinsehen ergibt sich jedoch, daß die Karte sehr korrekt ist; auch die Rumänen sind da, aber sie sind durch eine Farbe gekennzeichnet, die man kaum bemerkt, durch ein blasses, verwaschenes Violett. Dabei ist dieses Violett doch die überwiegende Farbe, es umschließt alle anderen, die weithin leuchtenden kleineren und größeren Farbflecken wie ein Meer seine Inseln.

Siebenbürgen - schon in diesem Namen klingt etwas von der Gewaltsamkeit der Geschichte durch, Aber auch von der Fragwürdigkeit aller Gewalt. Burgen lassen sich bauen, aber sie lassen sich auch zerstören - auch heute noch rätseln die Historiker herum, welche unter den vielen Ruinen einst die namengebenden Burgen waren. Die einzigen, die in Siebenbürgen keine Burgen bauten, waren die Ureinwohner, die Rumänen - sie brauchten keine, denn sie hatten die stärkste Burg, eine niemals berennbare: die Karpaten mit ihren bewaldeten Vorbergen, mit saftigen Weiden und klaren Bächen im Schutz hoher Felsgrate. Und aus dieser freien, niemals eroberten Höhe betrachteten sie das Schauspiel, das unten, an den Ufern der großen Flüsse, über die Arena zog, in einer unzerstörbaren Wesens- und Schicksals-gemeinschaft mit ihren Brüdern in der südlich der Karpaten gelegenen Walachei und in der östlichen Moldau.

Sie sahen zu, auch als meine eigenen Vorfahren ins Land kamen, die von den ungarischen Königen im 2.Jahrhundert, zwischen dem zweiten und dritten Kreuzzug angesiedelten "Sachsen", die aus der Gegend zwischen der Mosel und Flandern einwanderten und ihren Namen dem Umstand verdanken, daß sie die gleiche Sprache redeten wie die in den westlichen Grenzländern lebenden Sachsen - zumindest für ein ungarisches Ohr. Unter dem Schutz königlicher Privilegien, die ihnen - als Gegenleistung für die Verteidigung der Krone im Kriegsfall - Selbstverwaltung, Steuerfreiheit, eigene Gerichtsbarkeit "auf ewig" zusicherten, besiedelten sie den Süden und den Norden Siebenbürgens, rodeten Wälder, legten Straßen an, gründeten Städte und Dörfer, die sie nach dem Mongoleneinfall, vor allem aber in den Jahrhunderten der türkischen Expansion, zu starken Festungen ausbauten.

Rings um die Städte, um Sibiu - Hermannstadt, Brasov-Kronstadt, Sebes-Mühlbach, Sighigoara-Schässburg, Bistrita-Bistritz und Medias-Mediasch, zogen sie basteienbefestigte Wehrmauern, ihre Dorfkirchen bauten sie zu Burgen aus, zu Kirchenburgen, die in der europäischen Architektur ihren eigenen Platz einnehmen und zum größten Teil auch heute noch gut erhalten sind, wie in Cristian-Großau, Prejmer-Tartlau oder Harman-Honigberg. Diese festen Mauern reden auch heute noch eine deutliche Sprache von einstiger wirtschaftlicher Stärke; ein streng geregeltes Zunftwesen, weitverzweigte Handelsbeziehungen, eine blühende Landwirtschaft und eine lebhafte Bautätigkeit führten zu Wohlstand und Bildung. Die Siebenbürger Sachsen sind mit Recht stolz darauf, daß sie das früheste Schulwesen in Europa hatten; schon im 14. Jahrhundert verfügte jedes Dorf über eine eigene Schule. Zugleich veranschaulichen diese Mauern auch eine starre Abkapselung nach außen hin, einen Konser-vatismus, der in seiner bewahrenden Kraft sicherlich gut und notwendig war, aber doch auch zu politischer Blindheit und nationalistischer Überheblichkeit ausartete. Auch heute noch gibt es manchen unter meinen sächsischen Landsleuten, der von den alten Privilegien träumt, sich für etwas Besseres hält als seine anderssprachigen Mitbürger, und sich nicht damit abfinden kann, daß die Welt sich eben verändert.

Zwar tragen die Bauern auch heute noch ihre alten malerischen Trachten, wenn sie am Sonntag beim Gottesdienst dieselben Choräle singen wie die Vorfahren zur Zeit der Reformation, ihre bedächtige Langsamkeit entbehrt nicht der Würde, und es ist nicht nur ein Kuriosum, sondern zweifellos sehr beachtlich, daß sie sich ihren Dialekt durch ganze acht Jahrhunderte rein erhalten konnten; Akademien aus beiden Teilen Deutschlands schicken immer wieder ihre Forscher aus, und immer wieder können sie neue Notizen für ihresprachgeschichtlichen Studien sammeln.Doch wenn vor sechzig Jahren ein Landpfarrer noch mit ziemlicher Sicherheit annehmen konnte, daß der Täufling, den er heute segnet, von einem Amtsnachfolger im selben oder zumindest in einem benachbarten Dorf auch zum Friedhof begleitet wird, so kann er in unseren Tagen bei keinem diese Gewißheit haben. Und das liegt nicht - wie man's gelegentlich zu hören bekommt - am Sozialismus oder an Romanisierungstendenzen, es liegt an den neuen Lebensformen einer industrialisierten Gesellschaft.

Die patriarchalischen Verhältnisse, die sich in Rumänien bis tief in unser Jahrhundert erhalten hatten, gehören der Geschichte an, der Rechenschieber hat auch bei uns die alten Spruchweisheiten entthront, und immer mehr Touristen werden enttäuscht sein, weil es längst nicht mehr so leicht ist wie vor dem Krieg, eine echte, ihren romantischen Vorstellungen entsprechende Zigeunersippe vor die Kamera zu bekommen. Ich leugne nicht, daß auch ich selbst gelegentlich mit romantischer Wehmut an die Jahrmärkte meiner Kindheit zurückdenke, an die farbigen, reichbestickten Trachten der Bauern, welche ihr Vieh, ihre Früchte, ihre Handwerkserzeugnisse in einem Durcheinander von Sprachen anpriesen, das mich immer sehr erregte. An die Töpfe, Krüge und Tonpfeifchen aus den ungarischen Dörfern, an die Wollballen, die Käsestapel, die Berge von Obst und Gemüse, die die rumänischen Bauern brachten, an die Kornsäcke und die fetten Ochsen meiner sächsischen Landsleute, an die Kupferkessel und Holzlöffel der Zigeuner. Allerdings erinnere ich mich auch noch ganz genau an den oft feindseligen Separatismus, die unsichtbaren Mauern, die zwischen Sprache und Sprache, Tradition und Tradition spürbar waren - in abgelegenen Gegenden lebt wohl noch manches davon, doch die Anziehungskraft der wachsenden Städte, die Ausstrahlung urbaner Lebensformen nimmt zu.

Man ist nicht mehr in erster Linie Rumäne, Deutscher oder Ungar, man ist Kollege unter Kollegen. Und nicht an der gemeinsamen Arbeit allein liegt es. Es liegt vor allen Dingen an der Toleranz der Rumänen, die in ihrer Geschichte allzuviel Unrecht und Unterdrückung erduldet haben, als daß sie andere unterdrücken könnten. Rumänien ist der einzige osteuropäische Staat, der seine deutsche Minderheit nach dem letzten Krieg nicht ausgewiesen hat. Es ist selbstverständlich, daß alle Minderheiten ihre eigenen Schulen haben, ihre eigenen Zeitungen, ihre eigenen Theater - doch das ist eine Sache der Statistik, und keine Statistik wird einem Außenstehenden, einem Reisenden, den starken Eindruck vermitteln können, den er schon bei einer kurzen Rast in einem Cafe oder in einem Gasthof gewinnt, wenn er durch Siebenbürgen fährt: Am selben Tisch werden oft mehrere Sprachen gesprochen, und es sind Einheimische, die zusammensitzen. Und er wird verstehen, daß das Prinzip der friedlichen Koexistenz hierzulande nicht eine Angelegenheit der Politik allein ist, sondern der lebendige Ausdruck einer jahrhundertealten, tagtäglich gelebten Wirklichkeit, die stärker bleibt als alle entzweiende Rechthaberei.